Wie dein Pferd lernt I: Die Lernkurve April 22, 2020
Lernen ist überlebensnotwendig. Puh, das klingt jetzt erstmal nach einem ziemlichen Aufreißersatz, oder? Man könnte auch schreiben: „Lernen ist leben!“. Klingt genau so extrem, ist ebenso richtig. Aber warum – und viel wichtiger, was hat das mit deinem Pferd zu tun?
Stell dir vor, wie sich ein Pferd im Laufe seines Lebens entwickelt. Wenn es geboren wird, ist es zuerst schutz- und hilflos, es ist auf seine Mutter angewiesen, um zu überleben. Das Fohlen besitzt Körperfunktionen, Reflexe und Instinkte, die seine ersten Handlungsversuche initiieren (beispielsweise den Saugreflex, um an die notwendige Muttermilch zu gelangen oder den Bewegungsreflex, um aufzustehen). Als Fluchttier ist es natürlich darauf ausgerichtet, die überlebensnotwendige Flucht so schnell wie möglich vollziehen zu können – deshalb ist das Pferd auch deutlich schneller auf den Beinen, als wir Menschen. Sind seine Versuche erfolgreich, so wird es belohnt, indem eines seiner Bedürfnisse (dazu kannst du hier nochmal spicken) befriedigt wird – in unserem Beispiel das physiologische Bedürfnis nach Nahrung und das Sicherheitsbedürfnis. Das Fohlen hat also etwas ausprobiert und die Folge seines Versuchs war erfolgreich. Wird dieser Kreislauf oft genug vollzogen und steigt die Erfolgsrate des Fohlens über 80%, dann hat es ein Verhalten gelernt.
Lernen ermöglicht es einem Lebewesen, sich an seine Umwelt bestmöglich anzupassen und mit Veränderungen seiner Umwelt klarzukommen. Du hast nun hier schon gelesen, dass es dem Pferd nicht möglich ist, sich Zukunftsszenarien auszudenken und somit zukünftiges Verhalten zu konstruieren und abzuschätzen, so wie es der Mensch macht – zumindest nicht in der dem Menschen möglichen Komplexität. Der Mensch lernt diese Art komplexen Denkens in etwa ab dem vierten Lebensjahr. Du kannst dein Pferd also in seinem Lernverhalten mit einem Kleinkind vergleichen, denn beide lernen über Versuch und Irrtum.
Versuch und Irrtum ist die grundlegendste Form des Lernens, selbst Pflanzen können in abgeänderter Form über Versuch und Irrtum „lernen“ (dies näher auszuführen würde jetzt zu weit führen, ist aber ein spannendes Thema!). Damit das funktioniert, nimmt das Individuum (in unserem Fall dein Pferd) verhaltensrelevante Informationen aus der Umwelt auf, verarbeitet diese und speichert sie in seinem Gedächtnis. Das klingt jetzt vielleicht recht wissenschaftlich, ist aber ganz einfach:
Das Pferd durchläuft verschiedene Lernphasen, bis es etwas wirklich gelernt hat:
- Spontanphase: Es hat noch kein Lernvorgang stattgefunden. Das Tier verhält sich zu einer gestellten Aufgabe oder einem Problem in zufällig spontanen Verhalten.
- Lernphase/Erwerbsphase: Das Pferd passt sich der Situation an und die Fehlerquote sinkt. Bedingt wird das Lernen durch einen für das Pferd positiven Ausgang der Situation bei richtiger Entscheidung (z.B. positive Verstärkung – das Fohlen kommt an die Muttermilch)
- Kannphase: Die Lernleistung ist oberhalb des Lernkriteriums gestiegen. Es ist eine Zunahme der Lernleistung zu sehen, die sich signifikant von der anfänglichen Spontanphase unterscheidet

Bis dein Pferd etwas gelernt hat, muss es also auf einen Reiz mehrmals verschiedene Reaktionen ausprobiert haben, von der immer die selbe Reaktion mit einer Verstärkung belohnt wird. Was jetzt sehr theoretisch klingt, ist dir eigentlich in der Praxis schon geläufig, denn unsere komplette Hilfengebung beruht auf diesem Prinzip. Hier ein paar Beispiele:
Nehmen wir an, du möchtest einem Jungpferd beibringen, dass es auf ein Anticken mit der Gerte einen Schritt nach vorn gehen soll. Wenn es nun neben dir steht und noch nie Kontakt mit der Gerte hatte, wird es zuerst nicht wissen, was es tun soll, seine Reaktion ist also spontan. Vielleicht wird es zuerst gar nicht reagieren oder sich ein wenig erschrecken und deshalb nach vorne gehen. Belohnst du dieses „nach vorne gehen“, so wird es zuerst öfter diese Reaktion zeigen und somit lernen, dass diese Reaktion richtig war und zu einem Lob führt.
oder
Thema richtiges Treiben: Auf deinen treibenden Impuls am Schenkel folgt ein williges Vorwärtstreten deines Pferdes, woraufhin der Druck verschwindet (Verstärkung des Verhaltens – Belohnung).
oder
Während du dein Pony putzt, hast du in der Tasche einige Leckerlies. Dein Pony riecht die Leckerlies und schnuppert an deiner Tasche herum. Du findest das niedlich und gibst deinem Pony ein Leckerlie (dein Pony interpretiert dies als Belohnung). Dein Pony schnuppert kurze Zeit später wieder an deiner Tasche herum, denn es riecht weiterhin die Leckerlies. Du findest es wieder niedlich und gibst ihm wieder eines (es ist ja soo goldig, diese kleine Ponynase und die Knopfaugen!!). So erziehst du dir den perfekten Taschenwühler, denn dein Pony lernt hier ganz schnell den Zusammenhang „Ponynase an der Tasche –> Futterantwort“. Uups, das wolltest du vermutlich nicht.
Du siehst hier schon: Dein Pferd oder Pony lernt IMMER, leider auch schnell etwas, das du vielleicht gar nicht beabsichtigt hast. Natürlich kannst du einem nach Futter suchendem Pony auch wieder beibringen, dass es keine Leckerlies aus der Hand gibt oder nur in bestimmten Situationen. Einmal gelerntes Verhalten zu korrigieren, ist aber deutlich langwieriger, als es gar nicht erst soweit kommen zu lassen. Das beste Beispiel hierfür sind sogenannte „Problempferde“ aller Arten.
Auf die verschiedenen Lernforen Sensibilisierung, Habituation, operante und klassische Konditionierung werde ich in späteren Blogposts noch eingehen – das würde hier jetzt den Rahmen sprengen. Das Wichtigste ist aber:
Wenn dein Pferd unerwünschtes Verhalten – egal welcher Art – immer wieder zeigt, dann nicht, weil es „hinterlistig, gemein“ oder sonst etwas ist, sondern weil es dieses GELERNT hat. Für das, was dein Pferd lernt, bist du verantwortlich. Deshalb ist es unheimlich wichtig, sich mit diesem Thema intensiv auseinanderzusetzen, um dann eine konstruktive Lösung zu finden oder unerwünschte Lerninhalte vermeiden zu können.
Hast du Fragen zu diesem Thema? Dann stell sie mir gerne in den Kommentaren :-).
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