Was kommt dir als erstes in den Sinn, wenn du an „Führung“ denkst? Woran denkst du, wenn du dieses Wort hörst? Und was fühlst du, wenn ich hier von einem „Chef“ schreibe? Nimm dir ein paar Minuten Zeit und lasse diese Begriffe auf dich wirken – und, welchen ersten Eindruck hast du?
Die allermeisten Menschen stellen Führung mit ihrem Job in Verbindung – der Chef steht über ihnen, ist weisungsbefugt und lebt schlimmstenfalls den „Führungsstil Nilpferd“ aus: Auftauchen, Klappe aufreißen, wieder abtauchen. Oftmals spielen Themen wie Macht oder Dominanz eine Rolle – der Chef zu sein gibt einem Menschen eine gewisse Macht über andere und einen größeren Handlungsspielraum. Auch im Pferdekontext hört man häufig Dinge wie „Du musst dich mal richtig durchsetzen!“ oder „Zeig dem halt mal, wer der Chef ist!“. Die Konnotation dieser Begriffe ist häufig negativ besetzt – kein Wunder, dass es so vielen Menschen schwer fällt, für ihr Pferd ein souveräner Chef zu sein und ihm die Führung zu geben, die es braucht.
Moment mal, die es „braucht“?
Ja, denn für ein Pferd ist Führung von Natur aus etwas grundpositives – ein guter Chef ist für die Herde überlebenswichtig. Warum ist das so?
Fangen wir einmal von vorne an: Das Pferd ist ein Flucht- und ein Herdentier. Es hat von Natur aus nur wenige Möglichkeiten, sich zu verteidigen, weshalb es stets darauf bedacht ist, Gefahrensituationen zu vermeiden, statt mit ihnen umgehen zu müssen. Darauf ist der ganze Körper des Pferdes ausgelegt: Lange Beine und eine große Lunge ermöglichen eine schnelle Flucht, die Augen verschaffen dem Pferd durch ihre seitliche Positionierung am Kopf beinahe einen Rundumblick und selbst die Ohren können in alle Himmelsrichtungen gedreht werden, um potentielle Gefahren schnell zu erkennen. Die permanente Beobachtung der Umwelt, um Gefahren schnell erkennen zu können, kostet das Pferd aber viel Energie. Ständige Aufmerksamkeit versetzen das Pferd in einen höheren Muskeltonus (Anspannung) und das Gehirn muss allerlei Reize verarbeiten und auswerten. Würde in einer Herde jedes Pferd auf sich selbst aufpassen, wäre dies eine enorme Verschwendung von Energie – Energie, die gerade schwächere Herdenmitglieder für eine potentielle Flucht bräuchten.
Deshalb gibt es in der Herde einen, der die Führung inne hat. In der Natur gibt es in der Regel sogar eine Leitstute und einen Leithengst, also zwei Leittiere. Aber anders als der Mensch besitzt das Pferd keine emotionalen Verknüpfungen mit dem Thema Führung. Anders als beim Menschen gibt die Führungsposition dem Pferd kein Machtgefühl und ein guter Herdenchef ist auch nicht „aggressiv“ oder „dominant“ – er ist souverän! Und auch das hat in der Natur seine Gründe:
Der Herdenchef hat innerhalb der Herde Pflichten und Privilegien. Er prüft in potentiellen Gefahrensituationen, ob der Fahrradfahrer am Weidezaun ein Raubtier oder eine Futterquelle ist, führt die Herde zu Futter und Wasser und schätzt allgemein Risiken für die Herde ab. Um dieser Verantwortung nachkommen zu können, benötigt der Herdenchef gewisse Eigenschaften, die ihn souverän machen: Mut, ein gesundes Selbstbewusstsein, Überblick, Besonnenheit. Herdenchef wird also, wer für diese Aufgabe am besten geeignet ist – nicht, wer sich aggressiv gegenüber seinen Artgenossen verhält. Mit reiner Unterwerfung hat die Rangordnung einer Herde nichts zu tun, im Gegenteil: Ein aggressives Tier würde in der Herde eher alleine stehen, es würde aus Angst von den anderen Tieren gemieden werden. Das kann man in Ställen mit Herdenstrukturen manchmal bei Pferden beobachten, die in schlechter Haltung aufgewachsen sind und nicht sozialisiert wurden. Dahingegen wird die Nähe von souveränen Leitfiguren gesucht, weil diese Sicherheit und Ruhe ausstrahlen, kaum in Rangkämpfe verwickelt sind und durch ihre Präsenz kaum Gewalt zur Durchsetzung ihrer Position anwenden müssen.
Damit die Herde sicher sein kann, dass der Herdenchef jederzeit seiner Rolle bestmöglich nachkommen kann, liegt es in der Natur der Sache, dass sich die Herdenmitglieder immer wieder von der Souveränität des Herdenchefs überzeugen, indem sie diese „testen“. Pferde testen einander sehr fein und oft benötigt es nur wenig Aufwand, damit ein Pferd ein anderes bewegt – ein Anlegen der Ohren oder ein Ruck mit dem Kopf genügen oftmals, um ein anderes Pferd weichen zu lassen. „Wer bewegt wen“ ist die Hauptfrage, wenn es um die Prüfung der Rangposition geht. Das kann man auch im Offenstall oder auf der Weide jederzeit beobachten: Wer lässt wen weichen? Wer weicht vor wem am Futter oder an der Tränke zurück? Und wie viel Aufwand benötigt welche Rangposition dafür, ein anderes Pferd zu bewegen? Dabei verläuft die Eskalation solcher Beziehungstests sehr schnell: Reagiert ein rangniedrigeres Pferd nicht auf das Ohrenanlegen des Ranghöheren, kann die Situation schnell in Bisse oder Tritte übergehen, mit denen der Ranghöhere seine Position verdeutlicht.
Für den Menschen ist diese schnelle Eskalation oft schwer nachzuvollziehen und wir neigen dazu, Mitleid mit dem Rangniedrigeren zu haben und den Ranghöheren zu verurteilen. Das ranghöhere Pferd wird als „fies“ oder „gemein“ beurteilt – Vermenschlichung, die mit dem Pferdeverhalten absolut NICHTS zu tun hat. Im Gegenteil, betrachten wir noch einmal die Relevanz, weshalb ein guter Herdenchef und damit die Rangordnung für die Herde so nötig ist, dann wird schnell deutlich, dass dieses Sozialverhalten für die Pferde sogar wichtig, ja überlebenswichtig ist.
Was bedeutet das alles nun für die Beziehung zwischen Mensch und Pferd? Darauf werde ich in einem späteren Post eingehen.
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